Anton Corbijn - He's lost / in control

 

HE'S LOST/IN CONTROL

Text: Andreas Reihse

Anton Corbijns "Control"

 
Die Sonne steht tief und taucht den Bahnsteig in das Rot verblichener Hollywood-Kopien. Die Farben verblassen, ich muss an den alten Kölner Hauptbahnhof denken, eine verschwommene Erinnerung in Grau, die nach Zigaretten riecht. Der Zug nach Brüssel rollt langsam ein. Unter einer Kölner Kirche spielen Joy Division eines ihrer zwei Deutschland-Konzerte - das andere an meinem 12-ten Geburtstag im Berliner Kantkino. Ich bin mit Max beim New Order Konzert. Der Sound ist uberraschend gut, wenn man an all die unhörbaren Livebootlegs denkt. Anschliessend mit Peter Hook, Bernard Albrecht und Arthur Baker in einem turkischen Schnellrestaurant, dann an die Hotelbar. Fur das Sixpack waren sie doch zu mude. Bilder und Zeiten wirbeln durcheinander. Mit Kreidler auf der Suche nach einer Stadtmitte in Manchester. Da war die IRA schneller. Bez schleicht sich mit zwei Rasseln auf die Buhne des Luxors. Meine erste New Order Platte, "Power Corruption and Lies" - ich bin enttäuscht, dass Blue Monday fehlt, und lese begeistert im NME, wie jemand den Zeichencode auf dem Cover knackt. Meine nächste Platte von ihnen ist "Confusion" und dann "Perfect Kiss". Als ich mit Oliver Tepel zusammenwohne, meint er, letztere sei die erste New Order Platte, davor war Joy Division. Ach, der Baker-Mix war auch schon ein ganz schöner Schritt, finde ich. Ich denke an Ian Curtis, der sich am Vorabend der US-Tournee seiner Band das Leben nahm; an Tony Wilson, der gerade erst im August dem Krebs erlag, an Steve Coogan, der ihn im Film "24 Hour Party People" spielte und - laut Gossipmagazin "Popbitch" - die Spendenaktion der Happy Mondays für ein teures Medikament, das Wilsons Lebenserwartung verlängern sollte, nicht unterstützte.

Ich bin unterwegs, um mir "Control" anzusehen, den Film uber das Leben von Ian Curtis. Und wo auch sonst auf dem Kontinent, wenn nicht in Brüssel, der Stadt von Factory Benelux.

Die verfilmte Künstlerbiografie, da schrillen Alarmglocken. Und dazu noch Anton Corbijns Debüt als Spielfilm-Regisseur... Die Legende besagt, Anton Corbijn habe 1979 die Niederlande vor allem auch wegen Joy Division Richtung England verlassen. Sein erster Fotojob hiess zwar Bill Haley, aber schon kurz darauf wurde er in Manchester gesichtet und schoss in Folge eine Reihe beruhmt gewordener Portraits von Joy Division. Zum Best of-Album "Substance", 1988, verarbeitete er sie in seinem Clip für "Athmospere". Natürlich hat er als Regisseur von rund 80 Pop-Videos immer wieder Ausfluge ins filmische Erzählen unternommen, hat zwei Konzertfilme uber Depeche Mode gedreht, aber reicht das für einen Spielfilm, und ist sein geschmackvolles Schwarz/weiss dann nicht doch eine Spur zu geschmäcklerisch, und seine Fanhaltung zu nahe dran am Sujet?

Einmal ja, zweimal Nein - kurz: "Control" ist ein ausgezeicheter Film.

Die Story basiert auf "Touching from a Distance", der Biografie von Curtis Witwe Deborah. Corbijn hatte das Drehbuch eines amerikanischen Schreibers verworfen (weil er es ihm zu methaphernlastig und zu sehr aus der Fanperspektive geschrieben war), und so kam der mankunische Autor Matt Greenhalgh ins Spiel; er ist vertraut mit der Stadt, mit Factory, der Haçienda, daruber hinaus stellte ihm Annik Honoré - die Angestellte der belgischen Botschaft, in die sich Curtis 1979 verliebt hatte - Ians Briefe an sie zur Verfügung. Gedreht wurde - natürlich in Schwarz/weiss - in Nottingham, das offensichtlich heute noch so aussieht wie Manchester in den 70ern. Die Kamera ist wunderbar, die Darsteller sind wunderbar, allen voran Sam Riley in der Hauptrolle, Samantha Morton als Debbie Curtis und Alexandra Maria Lara als Annik.

Der Film behauptet nicht zu wissen, warum Ian Curtis sich umgebracht hat. Er psychologisiert nicht, er beobachtet: Curtis, der von frühester Jugend an aus dem kleinbürgerlichen Milieu von Macclesfield in die Welt ausbrechen will und dann in einem Spagat hängen bleibt: in seinem Kinderzimmer legt er zur Bowie-Platte Cajal auf und ubt Tanzschritte vorm Spiegel; er klaut Omis heimlich die Medikamente, um sich damit wegzuschiessen; er heiratet - very british... - mit 16 seine erste Liebe; er behält seine Jobvermittler-Stelle parallel zu Joy Division. Curtis, der seine Entscheidungen immer ganz spontan trifft: so heiratet er, so wird er Sänger, so macht er seiner Frau ein Kind (- nachdem sie 400 Pfund für das Studio locker gemacht hat). Curtis, der Zeuge eines tödlichen epileptischen Anfall wird ("she's lost control"), kurz darauf selbst zum Epileptiker und dann - vermutlich aufgrund seiner Medikation (verstärkt durch Alkohol) - depressiv. Curtis, der sich in Annik verliebt ("free independent woman") und fortan in Schuldgefühlen lebt; schliesslich Curtis, der den reellen und den vermeintlichen Erwartungen, die auf ihm lasten, nicht mehr gerecht werden will und kann. Aber vielleicht litt er auch unter einem Mutterkomplex - es gibt Bilder: seine Ruckkehr ins Kinderzimmer, das Motiv der strickenden Mutter...

Referenzen, die einem breiteren Publikum vielleicht nicht bekannt sind, werden elegant mit wie beiläufig herumliegenden Büchern, Platten oder über Schriftzüge und Poster aufgelöst. Erzählt wird mit liebevollem Blick, manchmal mit bösem, schwarzen Humor; eher nebensächliche Details werden ins Zentrum geruckt, wie die Spraydose bei der "She's lost Control"-Session, der Alan Hampsall Charakter - Sänger von Crispy Ambulance - der als Ersatz-Curtis auf die Buhne geschubst wird, Herbert Grönemeyer als Beipackzettel-rappender Arzt, ein The Fall-Witz mit Riley, der doch in "24 Hour Party People" Mark E. Smith darstellte, der Punkpoet John Cooper Clarke als er selbst, der Wilson-Charakter, der kollabiert, weil er mit seinem Blut den Joy Division-Vertrag unterzeichnet...

Die Geschichte ist geradlinig erzählt und uberschaubar, die Anzahl der Darsteller auch - Charaktere, die manchmal ins cartoonhafte schwappen. Jede Szene stimmt, jeder Dialog sitzt, "Control" ist kein Darkwave-Nischenfilm, sondern steht eher in der Tradition von britischenTeenager/Coming-of-Age - Dramen wie John Schlesingers "Billy Liar", Lindsay Andersons "If..." oder Chris Bernards "Letter to Brezhnev". Und Corbijn macht in seiner Inszenierung der Band (wie präzise er dabei ist, kann man anhand von Originalmaterial auf Youtube vergleichen) auch noch mal schön deutlich, dass Joy Division eigentlich eine klassische Rock'n'Roll Truppe war, und wahrlich wenig mit Gothic-Rock-Dusterelend zu tun hat.

Ein wirklich überraschendes Debut.

(Spex Sep 2007)